Wil Sensen und Peter Caspary

28.08. - 27.10.2006

Dialog

Ein Dialog entspannt sich zwischen den Werken zweier Künstler aus Wuppertal: von Wil Sensen zeigen wir Papierarbeiten der Gäa-Serie, die über die letzten Jahre entstanden sind, Peter Caspary ist mit neuen Arbeiten aus dem Themenkreis biologischer Untersuchungen vertreten.

Caspary war einstmals Schüler von Sensen, doch der Dialog zwischen beiden ist längst kein Lehrgespräch mehr. Im Gegenteil - Rede und Gegenrede leben gerade von der Verschiedenheit der künstlerischen Positionen. Die abstrakten Zeichnungen Sensens sind von größtmöglicher Sparsamkeit der grafischen Mittel geprägt – nur angedeutet erscheinen die Torsi der Urmutter Gäa auf schwarzgrundigem Papier. Caspary dagegen geht es um Annäherungen an mögliche vegetabile Formen, die in experimentellen Reihen wie in einem Labor entstehen. Beiden Künstlern gemeinsam ist die Betonung der Zeitlichkeit im Schaffensprozess, der in der Offenheit der Formen zum Ausdruck kommt. So ist der Dialog keinesfalls auf zwei beschränkt: auch die Betrachter sind gefragt, am visuellen Zwiegespräch teilzunehmen.


Katalogtext:

Wil Sensen
Peter Caspary

Dialog
To be means to communicate dialogically.
When dialogue ends, everything ends.

Mikhail M. Bakhtin


Wenn der Dialog endet, ist alles vorbei. Das Dialogische ist eine Grundform der menschlichen Existenz, denn das Dasein vollzieht sich stets im Gegenüber mit einem Anderen – vollkommene Isolation ist undenkbar.2 Immer schon und in jedem Moment befinden wir uns auf unendlich vielen Ebenen in Beziehung zu unserer Umwelt, deren Totalität niemand je vollständig erfassen kann. Erst im Dialog vermögen wir es, aus der Unendlichkeit der Verbindungen auszuwählen und aus der Vielzahl der Erlebnisse Sinn zu machen. Die Sprache, mit der wir uns anderen mitteilen, manifestiert dieses dialogische Prinzip lediglich und bestimmt die Verhältnismäßigkeit zwischen uns und dem Anderen. Derart essentiell verstanden, entspannen sich Dialoge nicht nur zwischen Personen, die miteinander sprechen, sondern können auch die Beziehung zwischen den Werken zweier Künstler stiften. Was hier eigens gegenübergestellt wird – Zeichnungen von Wil Sensen und großformatige Arbeiten auf Leinwand von Peter Caspary – kann demnach ohne ein grundsätzlich dialogisches Verständnis überhaupt nicht erfasst werden, denn es gibt kein Werk allein für sich: immer schon ist ein Kontext vorhanden, von dem Bedeutung abhängt.

Auf welchen Ebenen können sich Dialoge entwickeln, betrachtet man einmal die Arbeiten der beiden Wuppertaler Sensen und Caspary? Folgt man den Grundgedanken des russischen Literaturwissenschaftlers, Sprachtheoretikers und Philosophen Mikhail M. Bakhtin, so tun sich in dieser Frage die vielschichtigsten Ansätze auf. In einem bewegten Leben, das historisch von den Koordinaten der russischen Revolution, den beiden Weltkriegen und dem totalitären Regime der Stalin-Ära bestimmt war, hat Bakhtin – teils im Verborgenen arbeitend – eine umfassende Theorie des Dialogischen entwickelt. Bakhtin setzt den nicht-statischen, niemals endenden Dialog und seinen Reichtum an Bedeutungen bewusst gegen monologische, abgeschlossene Sprach- und Erzählformen, die er als totalitär entlarvt. Vielstimmig sind demnach etwa die Romane Dostoevskijs, die in ihrer narrativen Dichte belegen, dass kein Sinn absolut gesetzt werden kann, sondern Bedeutung immer in Abhängigkeit von Relationen entsteht. Es liegt also wesentlich am Standpunkt des Betrachters, wie die Dinge erscheinen. Nichts lässt sich vollständig mit anderen Augen sehen, denn keine zwei Betrachter können je den selben Standort einnehmen. Werden die Werke von Sensen und Caspary in einem visuellen Dialog miteinander konfrontiert, so hat dies notwendigerweise Auswirkungen darauf, wie wir sie wahrnehmen. Zwar denkt Bakhtin über literarische und linguistische, also rein sprachliche Dialoge nach, doch sind auch Bilder Ent-Äußerungen, die sich einer dialogischen Betrachtungsweise keineswegs verschließen. Im Gegenteil: in ihnen ist von vornherein ein Gegenüber angelegt. „Der Betrachter ist im Bild“ nennt der Kunsthistoriker Wolfgang Kemp dieses Phänomen und untersucht unter diesem Motto das Verhältnis von innerbildlichen Strukturen zu ihren Betrachtern.3
Die Wurzel des Dialogs in der westlichen Kultur aber liegt ohne Zweifel in der Philosophie Platons und seines Lehrers Sokrates begründet. Die mündliche „Hebammenkunst“ des Sokrates, anderen durch gezieltes Fragen zur eigenen Erkenntnis zu verhelfen, ist von Platon erstmals kunstvoll schriftlich fixiert worden und so noch bis in unsere Tage wirksam.4 Dient das wiederholte Fragenstellen dem Sokrates hauptsächlich dazu, seine Gesprächspartner ihrer nicht hinterfragten Gewissheiten zu berauben, so ermöglicht ihm die Dialogform außerdem, einen Gegenstand von vielen Seiten zu beleuchten und das Erkannte lediglich als vorläufig darzustellen. Der Prozess des Denkens kommt somit nie an sein Ende und einmal gefasste Einsichten bleiben stets offen für neue Sichtweisen. Was am Ende der sokratischen Dialoge als allgemeine Ausweglosigkeit erscheint, fordert in Wahrheit zur weiteren gedanklichen Suche auf. Erkenntnis wird dabei nicht durch einseitige Belehrung gewonnen, sondern in der Entdeckung von bereits vorhandenem Wissen, das erst im Dialog aktiviert wird. Das produktive Moment des Dialogs in der platonischen Philosophie liegt darin, dass alle beteiligten Gesprächspartner auf dem Weg zur Erkenntnis ihren Beitrag leisten.

Mit den Dialogen des Sokrates wurde ein Grundprinzip des erzieherischen Verhältnisses zwischen Lehrer und Schüler entwickelt, das bis in unsere Tage seine Gültigkeit nicht verloren hat. Auf die Kenntnisse und Erfahrungen des Schülers aufzubauen, lässt jenem vor allem die nötige Autonomie und ermöglicht es ihm – nicht nur im Falle der künstlerischen Bildung –, einen Zugang zur eigenen Kreativität zu finden. Damals war es die Frage der Tugend, die Sokrates intellektuell umtrieb, und die für ihn durch bloßes Lehren nicht zu vermitteln war. Auch heute noch stellen sich Pädagogen und Erzieher dem Problem, unter größtmöglicher Selbständigkeit des Schülers gerade das Lernen zu lehren. Von ebensolcher Freiheit war in den siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts der Dialog zwischen dem Lehrer Wil Sensen und seinem damaligen Schüler Peter Caspary an der Bergischen Universität Gesamthochschule Wuppertal geprägt. Im Austausch zwischen beiden kam es zu jener Art fruchtbarer Reibungen, die genügend Offenheit boten und den Jüngeren befähigten, den eigenen Weg unabhängig vom Älteren einzuschlagen. Dabei war die Lehrer-Schüler-Beziehung durchaus ein Geben und Nehmen – sowohl Sensen als auch Caspary stellten sich gegenseitig immer wieder vor neue Herausforderungen. Bestand damals noch ein direktes dialogisches Verhältnis zwischen den beiden Künstlern, hat Caspary später unabhängig von seinem Wegbereiter eine individuelle Handschrift entwickelt.

Was für ein Dialog besteht dann heute noch zwischen den Arbeiten Sensens und Casparys, wenn beider Werke tatsächlich völlig unabhängig voneinander entstanden sind? Wie schon erwähnt, müssen Dialoge keinesfalls einhellig sein und zum Konsens führen, Rede und Gegenrede eines Zwiegespräches leben vielmehr von der Verschiedenheit der Ansichten, die über einen Gegenstand bestehen. Betrachtet man den Umgang beider Künstler mit Zeit und Raum, mit der Natur oder mit der sie umgebenden Wirklichkeit, so werden zwei unterschiedliche Positionen zutage gefördert, die sich dennoch miteinander in Beziehung setzen lassen und nicht aneinander vorbeireden. Auch innerhalb der Gemälde und Zeichnungen ergeben sich gleichsam dialogische Verhältnisse der einzelnen Teile zueinander, die wiederum den Dialog mit dem Betrachter auf je eigene Weise in Gang setzen.

Grundlegend für das Verständnis der Werke von Sensen und Caspary ist das Verhältnis beider Künstler zur sie umgebenden Wirklichkeit, mit der sie in einem kontinuierlichen Dialog stehen, und die in unterschiedlichen Graden der Abstraktion im Bild ihren Niederschlag findet. Als Zeichner hat Sensen sein Augenmerk fast permanent auf seine Umwelt gerichtet, um die Verbindung zwischen visueller Wahrnehmung und ausführender Hand zu üben und zu überprüfen. „Ich zeichne ständig und benutze das gegenstandsbezogene Zeichnen wie ein Pianist, der seine Tonleitern spielt, um eine Kontrolle zu haben, ob die Hand noch tut, was der Kopf so sieht oder denkt oder haben möchte,“ hat Sensen einmal geäußert.5 Der Stift in der Hand ist dabei gleichsam das verbindende Moment, auf dessen Weg die vom Künstler wahrgenommene Welt als Linie ihre Spur auf dem Papier hinterlässt. Während sich in den privaten Skizzenbüchern tendenziell ein mimetisches Abbild der Welt niederschlägt, verraten die zum Ausstellen bestimmten Zeichnungen in viel stärkerem Maße die mittelbare Entstehung des Bildes durch die Person des Künstlers. In Anlehnung an die Disegno-Vorstellung der Renaissance ist das Zeichnen Ausdruck der geistigen Tätigkeit des Künstlers in der Auseinandersetzung mit Welt und zu malendem Bild. Dabei war mit dem Disegno im weitesten Sinne die zeichnerische Struktur eines Bildes gemeint, die gegenüber der Farbe Jahrhunderte lang privilegiert wurde. Sensen abstrahiert von seinen visuellen Erfahrungen und transponiert Gesehenes und Gedachtes in Darstellungen, die eine autonome Wirklichkeit herstellen – analog zur erfahrbaren Realität, aber nicht völlig unabhängig von ihr. Bakhtin bezeichnet diesen wechselseitigen und unauflöslichen Dialog zwischen der Realität einerseits und dem Kunstwerk – sei es nun Text oder Bild – auf der anderen Seite mit dem Begriff „Ambivalenz“6. Zwischen diesen beiden Polen kann sich das Denken auf unendlich mannigfache, vielstimmige Weise entfalten. Die Arbeiten der Gaia-Serie zeigen mithin keinen vollständigen weiblichen Torso der griechischen Mythengestalt und keine eindeutige Landschaft, sondern evozieren in ihrer Unabgeschlossenheit ein Seherlebnis, dessen sinnliche Qualität auf den Vorstellungen Sensens zu dieser Thematik beruht. Linienkürzel, Punkte oder farbliche Akzente vermitteln auf dunklem Bildgrund ein mehrdeutiges Bild von Weiblichkeit, das eng mit Erdigem und Landschaftlichem verbunden ist und sich erst im Prozess des Sehens konfiguriert. Natur und Weiblichkeit sind dabei untrennbar miteinander verbunden und in eins gesetzt.

In den Arbeiten Peter Casparys zeigt sich ein anderes Verhältnis des Künstlers zur äußeren Realität. Im Gegensatz zu Sensens mehr oder weniger rudimentären Verweisen auf äußere Wirklichkeit zeigen die Leinwände Casparys Elemente von wechselnden Graden der Abstraktion. In einem teils intuitiven, teils bewusst geplanten und reflektierten Malprozess bedient sich Caspary sowohl einer vollkommen ungegenständlichen, skripturalen und gestischen Formensprache, als auch stark realistisch aufgefassten Elementen, die er collagenartig miteinander kombiniert. Solcherart wird ein sich im Inneren des Künstlers vollziehender Dialog bildlich zur Anschauung gebracht, der sich zwischen künstlerischer Produktivität auf der einen Seite und kritischer Selbstbefragung auf der anderen vollzieht. Dabei nimmt das Bild im künstlerischen Arbeitsprozess selbst die Rolle eines Gegenübers ein, von dem Caspary nicht genau weiß, wie es sich am Ende entwickeln wird, und mit dem er in kontinuierlicher wechselseitiger Auseinandersetzung steht. Während sich das abstrakte Bildvokabular fast ausschließlich dem spontanen bildnerischen Vermögen des Künstlers verdankt, besitzen die gegenständlichen Formen eindeutig identifizierbare Vorlagen. In den jüngsten Arbeiten sind es vor allem naturkundliche Tafeln, die Caspary alten Schulbüchern und Rollbildern entnimmt und die das Wachsen von Pflanzen vom Samen über den Keimling bis zur Entwicklung von Blüten und deren Organen schematisch darstellen. Diese Modelle organischer Formen, die in sich selbst bereits Abstraktionen der Natur sind, greift Caspary auf – nicht etwa, um sie bloß zu kopieren und in seine farbigen Zeichnungen zu übernehmen. Vielmehr studiert er die Baupläne der einzelnen Wachstumsstadien, um diese Schemata zu refigurieren und etwas Neues zu erschaffen, das dem Vorbild nur mehr ähnlich sieht, aber etwas völlig Artifizielles ist. Die dialogische Ambivalenz, also das wechselseitige Verhältnis zwischen Wirklichkeit und Form, vollzieht sich hier in einem ganz anderen Umgang mit der äußeren Realität, als dies bei Sensen der Fall ist. Es sind nur scheinbar naturgetreue Abbildungen, die Caspary in seinen gemalten Tableaus erstellt, deren imaginärer Status sich aber bei genauem Hinsehen erkennen lässt. Die auf den ersten Blick so wirklich aussehenden Keime und Kapillaren nehmen die Bildkonventionen naturwissenschaftlicher Abbildungen auf, um diese als Modelle der Natur zu entlarven, die keinesfalls mit der Wirklichkeit kongruent sind, sondern ebenso wie die Kunst von unserem historisch bedingten Vorverständnis der Welt geprägt sind. So stellt sich am Ende die Frage nach dem Status von Gegenstand und Idee und deren dialogischer Verschränkung. Die Bildwirklichkeit erscheint hier nicht wie bei Sensen als analoge Erfahrung zur äußeren Realität, sondern Casparys Auseinandersetzung mit dem Verhältnis zwischen Bild und Welt lässt sich mit Platons Vorstellung der Ideenwelt in Verbindung setzen: Für ihn besaßen die Ideen der Dinge den Status von Urbildern, während die eigentlichen Dinge nur deren Abbild waren.

Doch nicht nur das Verhältnis der Künstler zur sie umgebenden Realität ist ein je spezifisch dialogisches. Darüber hinaus steht auch Sensen mit der leeren Bildfläche, mit noch nicht vollendeten Arbeiten und der innerbildlichen Komposition beim Zeichenprozess in einem unaufhörlichen, komplexen und langwierigen Dialog. „Ich zeichne sehr schnell, sehr spontan, komme aber trotzdem nur langsam vorwärts, weil ich immer wieder endlos vor den Blättern sitze und sehe und zeichne in Gedanken und höre Musik. Manchmal setze ich hier einen Farbfleck oder zeichne dort eine Linie. Immer bin ich um Gleichgewicht bemüht, stelle das Gleichgewicht aber auch immer wieder in Frage. Ich arbeite auch gerne gleichzeitig an mehreren Blättern oder habe oft viele Blätter in unterschiedlichen Stadien um mich herumliegen, die sich wechselseitig beeinflussen.“ Nicht nur befragt Sensen im Prozess des Zeichnens die Bildfläche samt den schon vorhandenen Setzungen, bevor neue hinzukommen, auch die übrigen Arbeiten werden als konstruktive Bestandteile in den Arbeitsprozess integriert. So kann kein Blatt Sensens völlig losgelöst von den anderen betrachtet werden, da sie stets in thematischen Reihen entstehen, die ihren Gegenstand in immer neuen Variationen bearbeiten. Deshalb finden Sujets, die schon vor langer Zeit in Folgen von Zeichnungen bearbeitet sind, etwa die Partituren oder die Stelen, bei der künstlerischen Auseinandersetzung mit den Frauenfiguren Gaia und Lilith erneut Eingang. So kann Sensen die Gültigkeit bereits gefundener Formensprache für die Verwendung innerhalb neuer Kontexte überprüfen.

Während die Blätter Sensens, selbst wenn sie in thematischen Reihen entstanden sind, autonom voneinander für sich allein bestehen können, so ist dies bei Caspary nicht immer der Fall. Die wiederholte Aufnahme ähnlicher Motive wie etwa überdimensionale beerenartige Strukturen oder unregelmäßige, mit großzügigem Pinselstrich angedeutete Zellhaufen in immer anderen malerischen Zusammenhängen schafft eine lockere motivische Beziehung zwischen den Werken dieser Ausstellung, so dass diese an Versuchsanordnungen in einem Labor erinnern. Caspary bezeichnet sich in dieser Hinsicht als Forscher oder besser noch als Detektiv, der unzählige Indizien zusammenträgt, um schließlich die gewählte Thematik organischer Formen in ihrer Ganzheit begreifen zu können, auch wenn dies lediglich Annäherung bleiben muss. In der dreiteiligen Arbeit Bio-Labor wird das Verhältnis zwischen den einzelnen Tafeln mittels starker farblicher und formaler Kontraste definiert, deren Komposition zwar über den Bildrand hinaus in einem ausgewogenen Verhältnis steht, die sich aber auch einzeln behaupten können. Bei den Tableaus mit dem Titel Bio-Archiv kann diese Trennung nur noch gedanklich vollzogen werden, denn hier hat Caspary einen vielstimmigen Dialog der Bildtafeln komponiert und festgefügt, der die Thematik einer vegetabilen Morphologie und deren naturwissenschaftliche Darstellung aus verschiedenen Blickwinkeln beleuchtet. Das Bildvokabular ist dabei besonders vielfältig, um der Komplexität des Phänomens gerecht zu werden. Motive aus Natur und Technik werden derart miteinander verwoben, dass die Natur letztlich als künstlich Hergestelltes erscheint, das unendlich formbar ist. Parallel zu den neuen Technologien, mit denen organische Strukturen selbst auf der Nano-Ebene bearbeitet werden kann, entstehen in der Wissenschaft neuartige Darstellungsformen von außerordentlich ästhetischem Reiz. Auch sie finden Eingang in die neuen Bildwelten Peter Casparys. Farbig-leuchtende Skripturen vor dunklem Hintergrund verweisen dagegen auf das Bild des Computer-Screens mit seinen Graphen und Tabellen, die in der Illustration natürlicher Strukturen und Prozesse bereits zur Selbstverständlichkeit geworden sind. Man ist an die Verfahren der Gentechnik erinnert, die Caspary – ohne den Zeigefinger mahnend zu erheben – vor allen Dingen als Möglichkeit auffasst, Natur noch vielfältiger zu gestalten. Anders als die Romantiker sucht er nicht mehr nach der blauen Blume, der Urform, in der alle übrigen Formen aufgehen, sondern er zeigt das Potential auf, aus der Verbindung von Natur und Wissenschaft immer wieder neue Formen schöpfen zu können.
Für Sensen hat die Natur eine gänzlich andere Bedeutung. Erdige Braun- und Blautöne, ein dunkler Bildgrund und zarte Farbverwischungen deuten ein Verständnis von ursprünglicher, gewachsener Natürlichkeit an. Angedeutete horizontale Linien lassen die Zeichnungen als Landschaften lesen, die mit dem zentralen Motiv, der Gaia- oder Lilith-Figur, symbiotisch verbunden sind. Sensen versieht dabei die weiblichen Torsi, deren Schenkel, Nabel oder Rumpf mit denkbar wenigen zeichnerischen Elementen umschrieben werden, jeweils mit einem visuell stark betonten Schoß, so dass die Vagina als Ort des Ursprungs erscheint. Gaia ist eine Mythengestalt aus griechischen Schöpfungssagen, die die weibliche Erde personifiziert. Nach Hesiod entstand sie neben Tartaros, der Unterwelt, Eros, dem Verlangen, Erebos, dem Schatten der Unterwelt und Nyx, dem Schatten der Erde, aus dem anfangs allein vorhandenen Chaos, der gähnenden Leere.7 Bezeichnend ist, dass es zu Beginn in dieser vollständigen Leere noch kein Gegenüber gab und folglich auch kein Dialog stattfinden konnte – ohne das ordnende und relativierende Potential des Dialogs herrschte also allein das Chaos. Gaia besaß die Kraft, aus sich selbst heraus den Himmel, die Berge und das Meer zu gebären, bevor sie sich mit Uranos, dem Himmel, ihrem eigenen Sohn, vereinigte und die ersten Gottheiten hervorbrachte. Die Stärke und kreatürliche Macht, die ihr in diesem und in anderen Mythen zugewiesen wird, bringt Sensen durch die Verwendung stelenartiger, massiv erscheinender Formationen zum Ausdruck. Gelegentlich wird Gaias physische Identifikation mit der Erde auch durch zarteste Setzungen formuliert. Mit Lilith bezeichnet Sensen jene Gaia-Blätter, in denen er das Kraftvolle und Schöpferische ursprünglich verstandener Weiblichkeit betont. Die kaum bekannte Figur aus jüdischen Legenden war die erste Frau Adams – wegen ihres unbeugsamen Wunsches nach sexueller Autonomie von diesem aus dem Paradies verstoßen. Im biblischen Schöpfungsmythos findet sich kein eindeutiger Hinweis mehr auf Evas Vorgängerin, erst bei Jesaja wird sie mit Dämonen in Verbindung gebracht. Die sexuellen Konnotationen dieser ambivalenten Frauenfigur setzt Sensen durch den Fokus auf das weibliche Geschlecht wirksam in den Vordergrund. So ergibt sich ein Bild von Weiblichkeit und Natur, deren kreatürliches Potential mit dem schöpferischen Prozess des Zeichnens gleichgesetzt wird.

Diese Lesart drängt sich jedoch keineswegs auf, denn Sensen lässt genug Freiraum zwischen den einzelnen zeichnerischen Elementen, so dass diese in einem zwar ausgewogenen, aber uneindeutigen Verhältnis zueinander stehen. Für die Beziehung der Teile untereinander ist der Raum zwischen ihnen, die Leere, geradezu unerlässlich. Dieser unausgefüllte, nicht weiter in die Tiefe definierte Raum sorgt dafür, dass die Relation von Linien und Punkten zueinander niemals absolut gesetzt werden kann und keinesfalls von erzählerischer Konsistenz ist. Für sich genommen entbehren die einzelnen Teile des Bildvokabulars jeglicher Bedeutung – so könnten die vaginalen Bereiche, deren charakteristische Struktur so sehr in den Vordergrund gerückt ist, kaum ohne die angedeuteten Leiber als solche identifiziert werden. Nur wenn zwischen Linien und Punkten, Schraffuren und Setzungen durch den Betrachter aktiv ein Zusammenhang hergestellt wird, lässt sich Bedeutung konstituieren. Die reduziertesten Arbeiten Sensens lassen imaginäre Verbindungen zwischen den zeichnerischen Kürzeln fast vollkommen in der Schwebe, so dass die Kompositionen stets in Bewegung begriffen zu sein scheinen. Analog zum Prozess des Zeichnens stellt diese strukturelle Offenheit und Unabgeschlossenheit eine zeitliche Dimension dar, der das Dynamische und Veränderliche zu eigen ist und die auch für den Akt der Bildbetrachtung gilt. Der sparsame Umgang mit den wenigen farblichen Akzenten unterstreicht diese semantische Vieldeutigkeit nur noch, indem die andeutungsweise dargelegten Strukturen chromatisch nicht näher bezeichnet werden.

Auch in Casparys Arbeiten spielt die Leere eine Rolle, auch bei ihm werden zeitliche Prozesse bildlich ausgedrückt. In diesem Punkt nähern sich die Werke beider Künstler am meisten einander an und zeigen am ehesten die alte Verbindung zwischen Lehrer und Schüler. Doch der Bildraum, in dem die Motive Casparys frei schwebend angeordnet sind, ist anders als bei Sensen ein farbiger, vielschichtiger, dessen Geschichte sich sowohl im flächigen Zwei-, als auch im räumlichen Dreidimensionalen manifestiert. So scheint stellenweise Übermaltes durch die mehr oder weniger dick aufgetragenen Farbschichten und verweist auf frühere Zustände des Bildes, um dem oberflächlich Sichtbaren weitere, fast verborgene Bedeutungsebenen zuzufügen. Die übrigen, teils frei assoziierten, teils in Leserichtung gereihten Lacmusstreifen, Petrischalen, Zellwucherungen und Zwiebelformen treten solcherart miteinander in Kontakt, dass sich ein polyphones Bedeutungsfeld eröffnet, das immer wieder neue und andere semantische Verknüpfungen zwischen den einzelnen Teilen zulässt. Kontrastiert werden diese offen gestalteten Bildbereiche mit strenger organisierten, monochromen Farbstreifen, wo die täuschend echt aussehenden, aber imaginären Feldfrüchte Casparys ihren Platz finden. Malerische Freiheit wird so einer wissenschaftlich anmutenden Ordnung ge-genüber gestellt, die dem leeren Bildraum jeweils einen anderen Sinn zuweist: während ers-terer ganz offensichtlich zu unterschiedlichen Lesarten einlädt, fordert letzterer bewusst dazu auf, die modellartige Darstellung der imaginären Pflanzenteile auf ihren vermeintlichen Wissensgehalt hin zu überprüfen.

Es sind also die Leerstellen im Bild, die sowohl in den Arbeiten Sensens als auch in denen Casparys dafür sorgen, den Betrachter aktiv in den visuellen Dialog einzubeziehen. „Das Sujet der Werke ist das Subjekt, ist die Formung unserer Identität über Prozesse der Wahrnehmung und der Identifikation“ heißt es bei Kemp über die explizit dialogische Struktur der Bilder.8 Die dynamische Offenheit zwischen den einzelnen Bildelementen in den Arbeiten beider Künstler fordert dazu auf, ihnen im Akt des Sehens konstruktiv Bedeutung zu verleihen. Bei Sensen wird der Dialog mit dem Betrachter hergestellt, indem die nur angedeuteten Strukturen die Suche nach sinnhaften Wahrnehmungsmustern anregen; bei Caspary drängen sich die einzelnen Objekte geradezu einer individuellen Lesart auf, basierend auf den Erfahrungen und Kenntnissen der Kunstbetrachter. Die Werke beider Künstler lassen noch unendlich viele mögliche Interpretationen und vielerlei Schlüsse zu, die auf ihrem Verhältnis zur Wirklichkeit wie auf der offenen Beziehung der einzelnen Bildelemente untereinander beruhen. Vom Standpunkt des Betrachters wiederum hängt es ab, wie die Arbeiten jeweils wahrgenommen werden. Doch sind es erst die Bilder, die uns in diesem visuellen Dialog bewusst werden lassen, wer wir sind und wo wir stehen.

Susanne Buckesfeld M.A.