Die Langheimer

04.02. - 27.02.2004

Hohe Tiere, wilde Bestien, sanfte Lämmer und die Kunst

Ein Projekt der Langheimer Robert Hartmann, Werner Reuber und Ulrike Zilly und der Stadtsparkasse Wuppertal

Im Juli 2003 waren die drei 'Langheimer', eine der originellsten und produktivsten zeitgenössischen Künstler-Gruppen, nach Wuppertal gekommen, um im Zoo während einer Woche in öffentlicher Aktion vor dem Publikum seiner täglichen Besucher malerische Tierportraits anzufertigen. Nun werden die Ergebnisse dieser Aktion präsentiert.
 

„Es ist die Wissenschaft so lang wie ein Affenschwanz und so präzise wie ein Pinselstrich oder ganz kurz das vierte Lachen der Langheimer.“
Robert Hartmann

Oliver Zybok
Die Animalisierung der Kunst

Lange Zeit war für das moderne, rationale Abendland eine zwischen Mensch und Tier gezogene Grenze verbindlich, die einer einheitlichen evo-lutionären Entwicklung widersprach. Die Biologie des 19. Jahrhunderts stellte diese von der Religion und Philosophie festgelegte Barriere infrage. Charles Darwins ‚Abstammung des Menschen und die geschlechtliche Zuchtwahl’ (1871) enthielt die Botschaft, dass Menschen und andere Tiere Teil eines evolutionären Kontinuums sind. Auch heute relativieren Wissenschaftler die einstige Sonderstellung fast täglich aufs Neue mit der Entdeckung immer weiterer genetischer Gemeinsamkeiten zwischen Mensch, Schimpanse, Kugelfisch und Fadenwurm. „Wer weiß schon, dass [...] der Wurm ‚ein Bruder des Menschen’ ist? Genetisch stimmen beide zu 60 Prozent überein.“1 Die Formen genetischer Gemeinsamkeiten stehen den verschiedenen Vorstellungen der körperlichen Verschmelzung von Mensch und Tier sehr nahe. Diese Symbiose ist ein uraltes Motiv in den Mythen und Glaubensvorstellungen zahlreicher Kulturen. Oft konkretisieren sich göttliche Mächte sowohl in Menschen- wie auch Tiergestalt. Das gilt für die alt-ägyptische Kultur, in der die gesamte Tierwelt zum Ausdruck göttlichen Wirkens wird, ebenso wie für die griechische, in der Götter als Mischwesen in göttliche wie menschliche Geschicke eingreifen.
Die Mythen alter Kulturen deuten das Tier als einen gleichberechtigten Lebenspartner des Menschen. Noch Ovid beschreibt in den ‚Metamorphosen’ (von 1 v. Chr. bis etwa 10 n. Chr.), seiner das ganze vorchristliche Gedankengut zusammenfassenden Dichtung, eine Welt aufgehobener Oppositionen, in der eine Verwandlung vom Menschen zum Tier und zur Pflanze möglich ist. Die hier angedeuteten Wechselbeziehungen einer symbiotischen Schicksalsgemeinschaft holte die Künstlergruppe Die Langheimer (Robert Hartmann, Werner Reuber und Ulrike Zilly) mit einer Malaktion vom 7. bis 11. Juli 2003 im Wuppertaler Zoo wieder ins Gedächtnis zurück. In einer direkten Gegenüberstellung, auch wenn das aufgrund der Absperrungen der Gehege nur bedingt möglich war, wurden Tiere verschiedener Arten in direktem Blickkontakt porträtiert: Dromedare, Tiger, Gorillas, Flamingos, Elefanten, Zebras, Pelikane, Eisbären, Echsen, Tapire etc. Durch genaue Beobachtungen hielten die Künstler den Eindruck eines Moments malerisch und zeichnerisch fest. Es ging darum, Posen, Gebärden, Mimik, Körperhaltungen und Physiognomie wiederzugeben. Das Ergebnis sind facettenreiche Darstellungen. Erst das genaue Studium der verschiedenen Bewegungsabläufe und Körperhaltungen geben dem Porträtierten eine vom Künstler im Bild subjektivierte Individualität. Die künstlerische Fähigkeit wurde auf die Probe gestellt, wenn das jeweils porträtierte Tier die anfängliche Stellung während des Malvorgangs unverhofft verließ und sich somit die Schwierigkeit ergab, wie die Künstler denn nun das Bild vollenden sollten. Das beobachtende Publikum versuchte, den Blicken der Künstler auf die Tiere zu folgen und schaute dabei auf die Resultate der Malerei. Es ergaben sich drei Formen von Blickrichtungen: Der Kontakt Künstler/Tier, der Kontakt Besucher/Künstler und der Kontakt Besucher/Tier. Drei Wahrnehmungsformen trafen aufeinander, wobei das Tier, im Gegensatz zu den anderen Beteiligten, in seinem Bewegungsradius eingeschränkt war. Es stellt sich in diesem Zusammenhang die Frage, ob so die tierische Gegenwart aussieht. Beim Versuch eine Antwort zu finden, gelangt man schnell zu der Feststellung, dass das zeitgenössische Tierbild sich vornehmlich auf den Sektor Nutz- und Unterhaltungstiere zu beschränken scheint.

Seit vor etwa einhundert Jahren die Teddybären in die Kinderzimmer eingezogen sind, muss sogar das Haustier mit dem künstlichen Gegenstück konkurrieren. Das analoge Funktionieren eines Tamagotchi – die digitale Variante des Haustieres – lässt die Imitationen mehr bewundern als das lebende Äquivalent. Ebenso drängen sich die künstlichen Flusspferde, Film-Dinosaurier und Horror-Seeschlangen ins Blickfeld, die um vieles aufregender und lebendiger erscheinen als die verschlafenen Krokodile und Löwen im Zoo. Im Vergleich hierzu muten die echten Tiere wie Teile einer längst vergangenen Welt an, einer überholten Natur. Wenn es in der jüdischen und christlichen Tradition nahe liegend war, den Menschen als ein Wesen aufzufassen, dessen Zustand sich durch seine Vertreibung aus dem Paradies erklärte, während die Tiere sich durch ein Verbleiben im unkorrumpierten Schöpfungszustand auszeichneten, ist doch heute unverkennbar, dass ebenso die Tiere mehr und mehr einer umfassenden Vertreibung zum Opfer fallen. Zwar wird den gezüchteten und gezähmten Tieren das Leben gelassen, aber die Eigenschaften ihrer ursprünglichen Umwelt sind einer fortschreitenden radikalen Verwandlung unterworfen, sodass auch die menschliche Aufmerksamkeit für sie künstlicher erscheinen muss. Den Tieren wird eine ihnen nicht angemessene Rolle zugeordnet. Die Langheimer haben diese Form von Entfremdung in der Malaktion durch eine skurrile Kostümierung thematisiert. Indem sie einmal in einem Matrosenanzug auftraten, dann in einer Safari-Bekleidung, ein anderes Mal in einer bairischen Tracht, nahmen sie in ihrer äußeren Erscheinung eine künstliche Rolle ein, die für den malerischen Auftritt unangemessen war. Die Künstler zogen aufgrund der exotisch wirkenden Uniformierung die Aufmerksamkeit des Publikums auf sich, ihre eigentliche Tätigkeit geriet dadurch zunächst in den Hintergrund.

Mit den immer seltener werdenden Gelegenheiten, wilde Tiere in realen Situationen und traditionelle Haustiere in herkömmlichen Szenen zu erleben, geht für viele Zeitgenossen die Fähigkeit verloren, sich in die conditio animalis so einzufühlen, wie dies den weniger technischen Kulturen zuweilen gelang. Diesen „ursprünglichen Kontakt“ suchten die Langheimer im Zoo. Auch wenn nur eine Situation zu einer direkten Annäherung führte, war insgesamt die Kommunikation durch einen Blickaustausch nicht zu unterschätzen. Die gemeinsame Malaktion mit der Elefantenkuh Sweni schien das Fortschreiten einer Entfremdung des Tieres von seinem ursprünglichen Verhalten zu verdeutlichen. Der junge Dickhäuter war der Umgebung des Zoos geradezu angemessen vermenschlicht. Die harmonischen Gruppenfotos auf einem Baumstamm bestätigen diesen Aspekt. Das alles bedeutet nicht, dass die Situation unangenehm war. Die direkte Nähe zu dem Elefanten hatte zwar etwas beängstigend Befremdliches, weckte aber zudem große Neugier. Die Atmosphäre war entspannt, was zum großen Teil an der liebenswerten Gemütsverfassung von Sweni lag. Doch welche Erfahrungen ergeben sich aus einem Blickaustausch mit einem Tier? Dass der direkte Blickkontakt in anderen Situationen erstaunliche Reaktionen hervorrufen kann, zeigt des Erlebnis des Zoobesuchers Rick Swope.

Er wurde Zeuge eines dramatischen Zwischenfalls im Zoo von Detroit. Ein älteres und ein jüngeres Schimpansenmännchen rangen um die Führerschaft in ihrem Gehege, wobei das ältere unterlag. Um weiterer Gefahr auszuweichen, ergriff dieses die Flucht und sprang über eine Absperrung in einen Wassergraben, der so tief war, dass es darin zu ertrinken drohte. Die Besucher, unter ihnen Swope, sahen den untergehenden Affen mehrere Male an der Oberfläche auftauchen. Es war offenkundig, dass das Tier sich aus eigenen Kräften nicht mehr würde retten können. Indem er selbst in den Graben sprang, eilte Swope dem Schimpansen zu Hilfe. Weder die Warnrufe der Pfleger noch die erregten Schreie und drohenden Gestikulationen der übrigen Schimpansen konnten ihn daran hindern, den bereits bewusstlosen Körper aus dem Wasser zu ziehen und ihn hinter eine Trennwand vor weiteren Angriffen aus dem Käfig in Sicherheit zu bringen. Auf die Frage des Zoodirektors, warum er sich selbst einer so großen Gefahr ausgesetzt hätte, antwortete der Retter: „Nun ja, ich schaute in seine Augen.“2 Ohne die Szene symbolisch überhöhen zu wollen, lässt sich feststellen, dass Episoden wie diese die Möglichkeit einer momentanen Direktbeziehung zwischen menschlichen und tierischen Individuen illustrieren – jenseits von kulturellen Konventionen. Im Ausnahmezustand kann ein Einzelner, vom Tier angeschaut und das Tier erblickend, einen Moment unmittelbarer human-animalischer Solidarität herbeiführen. Die Geschichte ist vor allem deshalb ungewöhnlich, weil sie sich an einem Ort ereignete, an dem der Aktionsradius des Tieres erheblich eingeschränkt ist: dem Zoo.

In zoologischen Gärten werden Tiere als Beispiele für Arten von Lebewesen ausgestellt und daher wie Bilder angesehen. Die physische Präsenz der einzelnen Tiere dient vor allem als Index für eine Erscheinung im Tierreich. Es ist ihre Aufgabe, als Beispiele des Lebens dieser oder jener Spezies zu dienen, nicht als individualisiertes, präsentes Leben als solches. Tiere im Zoo sind Teil eines musealen Arrangements, in dem das Tierbild vom Tier selbst dargestellt wird. Im Hinblick auf das Tier kommt es nicht auf dessen Lebendigsein an, sondern auf seinen exemplarischen Charakter oder sein Bildsein. Es gibt keine Einfühlung, nur die Betrachtung an der „Oberfläche“. Mentale Schranken und physische Absperrungen reduzieren den Spielraum für human-animalische Interaktionen. Der Zoo ist eine Variante des Naturkundemuseums. In Letzterem kann man dank der Kunst der Taxidermisten auch die ausgestorbenen Tierarten in einer Form von ewiger Gegenwart betrachten.3 Aber hier wie dort vergessen die Besucher, dass Tiere Wesen sind, die Blicke aussenden oder erwidern. Wäre es anders, bestünde die Möglichkeit, dass die Betrachter häufiger Barrieren überwinden und sich als Komplizen der „Anima“ bekennen könnten, die in ihnen wie in den Exponierten bzw. Exponaten lebt. Für die Langheimer sind die Tiere Komplizen des Künstlers.

Die Tiere im Zoo sind „städtische Angestellte“ und „unkündbar“. Sie erzählen von der Globalisierung und ersparen so manch einem Besucher eine Weltreise. Nach Auffassung der Langheimer nehmen die im Zoo versammelten Tiere eine Vorbildfunktion ein. Vorbilder werden schon von alters her nachgebildet. Ihr Zauber und Abwehrzauber wird vom Künstler studiert und imitiert. Zu diesem Zweck gab es früher an den Kunstakademien Klassen für Tiermalerei. Der Glaube an die Notwendigkeit einer solchen künstlerischen Auseinandersetzung mit der Tierwelt ist im Laufe der Moderne verloren gegangen. Jeder Künstler hat in diesem weiten Feld seine eigenen Maßstäbe und Sehnsüchte, so auch Robert Hartmann: „Mein persönlicher Maßstab an einen Zoo ist: Wie hältst du es mit dem Blauducker? Blauducker sind scheu und man sieht sie nicht, ich habe schon seit über 10 Jahren keinen Blauducker mehr gesehen. Im Wuppertaler Zoo werde ich den Blauducker aufsuchen, um ihn mit meinem Blauducker zu vergleichen, und um dann ein Porträt des Blauduckers anzufertigen.“4 Auch wenn es im Wuppertaler Zoo keinen Blauducker gibt, so lässt sich der vom Künstler erhoffte Erfahrungswert verallgemeinern.

Doch warum auf Tiere schauen? Nur um den Blick der Tiere dem menschlichen Blick begegnen zu lassen? Kann nicht auch die menschliche Seite im tierischen Gegenüber etwas über ihre eigene Kondition erfahren? Hat nicht von alters her das Tier in der menschlichen Rede für „Personifikationen“ gedient? Jenseits der traditionellen moralischen Analogie hat die Moderne auch die „existentielle“ Analogie erschlossen. Rainer Maria Rilke hat die Verlorenheit des Tieres hinter Gittern in seinem Panther-Gedicht (1907) angesprochen: „Ihm ist, als ob es tausend Stäbe gäbe und hinter tausend Stäben keine Welt.“5 John Bergers Beobachtungen geben hierauf ein Echo: „Die Tiere blicken aus den Augenwinkeln heraus. Sie sehen blind in die Ferne. Sie suchen alles mechanisch ab. Sie sind Begegnungen gegenüber immunisiert, da nichts mehr im Zentrum ihrer Aufmerksamkeit stehen kann.“6 Diese Beschreibung weckt Zweifel, ob dem Besucher des modernen Zoos jemals die Wiederbegegnung mit der dunklen, entrückten Tier-Seele gelingen kann. Denn das Zoo-Tier, wie Berger es porträtiert, gleicht seinerseits dem Menschen in den überfüllten Räumen der Großstadt, der sich gegen die Außenwelt immunisiert und die Fähigkeit verloren hat, einen Fokus der Aufmerksamkeit auszubilden. Berger möchte durch die Zurückholung des Tieres in die bewusste Wahrnehmung zugleich den Blick auf die menschliche Situation selbst öffnen. Denn die „Reduktion des Tieres, die sowohl eine theoretische als auch ökonomische Geschichte hat, gehört dem gleichen Prozeß an wie jene, durch die Menschen auf isolierte produktive und konsumierende Einheiten reduziert worden sind“.7

Die praktische Beziehung des Menschen zum Tier wäre demnach nur ein Spiegelbild für den Umgang mit seinen eigenen inneren Grundlagen – ein Umgang, der durch die stetige Abwertung und Verwertung der Natur zu einer Umkehrung des Verhältnisses zwischen dem Lebendigen und dem Unbelebten geführt hat. Auch Max Horkheimer und Theodor W. Adorno sehen den technologischen Bruch mit dem Lebendigen zuerst am Tier vollzogen. Sie stellen fest, dass die Kenntnisse, die aus Laborbedingungen auf die Lebenswelt übertragen werden, „nicht auf das Tier in Freiheit, sondern auf den Menschen heute“ passen. „Er bekundet, indem er sich am Tier vergeht, daß er, und nur er in der Schöpfung, freiwillig so mechanisch, blind und automatisch funktioniert [...].“8 Die Vernunft, mit der der Mensch sich über das Tier erhebt, besitzt in den Augen der Philosophen die Eigenschaften einer Maschine, die „unbarmherzig abläuft“. Für diese mechanische oder zwanghafte Vernunft ist sein indifferentes Verhältnis zur Natur charakteristisch, die nur noch unter dem Gesichtspunkt der Verwertung betrachtet werden kann. Natürlich kann das Tierstudium der Langheimer auch als eine derartige Verwertung bezeichnet werden. Tiere hinter Gittern zu porträtieren oder Gemeinschaftsarbeiten mit einem dressierten Elefanten lassen nicht einen Umgang mit dem Tier in seiner Ursprünglichkeit vermuten. Die künstlerische Herausforderung lag in der genauen Beobachtung von Mimik und Gebärden. Ziel der Künstlergruppe war es, Formen von Lebendigkeit an den Tieren festzuhalten, um ihnen damit ein Stück Ursprünglichkeit wiederzugeben. Aus diesem Grund finden sich in keinem Werk Abgrenzungsmerkmale wie Gitterstäbe oder Zäune, keine Anzeichen einer Entfremdung. Was beim üblichen Zoobesuch im beiläufigen Vorübergehen häufig übersehen wird, bleibt beim genauen Studium der Tiere erhalten und wirkt somit einer fortschreitenden Entfremdung entgegen.

Es war Martin Heidegger, der im Wintersemester 1929/30 in einer seiner wichtigsten Vorlesungen an der Freiburger Universität das Tier „weltarm“, den Menschen aber als „weltbildend“ bezeichnet hat.9 Das Tier, sagt er in Anlehnung an den Biologen Jakob Johann von Uexküll, lebt eingesperrt in seinem „Enthemmungsring“ – einem Kreis von Bedürfnissen und Umweltreizen, in dem es „benommen“ ist. Die Umwelt des Tieres mag „offen“ sein, aber sie ist nicht „offenbar“, wie es die sich enthüllende Welt des Daseins ist. Originell an diesem Denken ist vor allem die Terminologie. Der Sache nach ist Helmuth Plessner eindeutiger. Er deklariert den „Geist“ des Menschen (im Unterschied zur „Intelligenz“, über die auch die Tiere verfügen) zum obersten Kriterium: „Im Tier herrscht als Grundprinzip die Geborgenheit in der Umwelt. Im Menschen öffnet sich die Geschlossenheit des vitalen Kreises – dem Anderen als dem Anderen.“10 Für Plessner ist es die Liebe, die dem Menschen eine Welt jenseits von Fressen und Schlafen eröffnet, für Heidegger ist es die Langeweile: In der Langeweile bemerkt das Dasein seine „Benommenheit“ und gelangt dadurch über sie hinaus. Aber ob man nun den Unterschied zwischen den Tieren und den Menschen nachidealistisch („Geist“) oder existentialontologisch („Dasein“) definiert – die Zahl der Menschen nimmt zu, die diese ganze Begriffsarbeit als verlogen empfinden und dahinter das Raubtier Mensch wittern, das sich beim Fleischfressen und Fleischbeschauen nicht stören lassen will. In der Erzählung ‚Das Leben der Tiere’ (1999) lässt J. M. Coetzee eine seiner Figuren den Verdacht äußern, „[d]ass diese ganze Diskussion über Bewusstsein und ob Tiere es besitzen nur eine Vernebelungstaktik ist. Im Grunde schützen wir unsere eigene Art. Die Daumen nach oben für Menschenkinder, die Daumen nach unten für Kälber“.11

„Ich bin kein Mensch.“12 Im Ausgang von Franz Kafkas Aussage, die in diesem Kontext auf die radikale Entfremdung des Menschen von sich selbst hinweist, lässt sich ein Brückenschlag zur Kunst versuchen. Es stellt sich die Frage, wie der Bruch mit dem Animalischen, der in den Sprachen der Wissenschaft und Technik nicht ausgedrückt werden kann, sich im Kunstwerk abbildet. Die moderne Kunst, die mit dem Anspruch angetreten ist, eine Trennlinie zwischen Innen- und Außenwelt, zwischen Natur und Selbst zu ziehen, unterscheidet sich zunächst nicht von den wissenschaftlichen und technischen Disziplinen. Ihr konstitutives Merkmal ist die Bewusstwerdung und Betonung einer prinzipiellen Distanz zwischen Gegenstand und Bild. Pablo Picasso bezeichnete die künstlerische Tätigkeit als ein „Blindenhandwerk“, eine Praxis, die ihre Regeln aus sich selber schöpft und keiner natürlichen Vorlagen und externer Referenten mehr bedarf. Ortega y Gasset sah in der modernen Kunst einen Angriff auf die „natürlichen Dinge“, die sie „verwundet oder tötet“. Mögen diese Äußerungen auch ein metaphorisches Moment enthalten, so lassen sie doch den Hinweis auf ein allgemeines künstlerisches Formprinzip hervortreten: auf jenes „Zerlegen und Deformieren“ gefundener organischer Gebilde, in welchem Charles Baudelaire das operative Geschehen der „Phantasie“ erkannt hatte. Ist also die Kunst nicht bereits vor ihrer modernen antinaturalistischen und antimimetischen Wendung die Antithese zur Natur? Hat sie nicht auf ihre Weise Anteil an der Entfremdung? Auch wenn diese Fragen zu bejahen wären bliebe festzuhalten, dass Kunst zugleich der Ort sein kann, an welchem Ursprung und Folgen der Entfremdung zu Gegenständen der Untersuchung werden. Eben dies verdeutlicht die Malaktion der Langheimer.

Wenn Rilke am Schluss der achten Duineser Elegie (1922) die Frage formuliert, „[w]er hat uns also umgedreht, daß wir, was wir auch tun, in jener Haltung sind von einem, welcher fortgeht?“, deutet die Rede von „Umdrehung“ auf einen ursprünglichen und stetig wiederholten Bruch der Teilhabe am Sein der Natur hin.13 Verweist sie nicht auf einen Einschnitt, von dem eine bis dahin unbekannte ontologische Kälte über das Animalische ausgegangen ist? Zeigt sie nicht jene Trennlinie, an der der Mensch sich mit einer geschichtlich neuartigen Radikalität von seinem nächsten Verwandten, dem Tier scheidet? Wie ein Leitmotiv wiederholt Rilkes Gedicht den Hinweis auf die „Umdrehung“ des Menschen, beginnend mit der Beschwörung jener „Augen“, die „wie umgekehrt“ und wie „Fallen“ um den Menschen gestellt sind. Das Kontinuum des Realen bricht unter dem Blick des Menschen auseinander, der das Gegebene nicht hinnehmen kann, sondern durch eigene Wertungen, Selektionen und Konstruktionen ersetzt. „Was draußen ist, wir wissens aus des Tiers Antlitz allein; denn schon das frühe Kind wenden wir um und zwingens, daß es rückwärts Gestaltung sehe, nicht das Offene, das im Tiergesicht so tief ist. Frei von Tod.“14 Die ‚Achte Elegie’ handelt von den Grundbewegungen des Hin- und Wegdrehens als den wesentlichen Gebärden der Annäherung an das umgebende Lebendige und der Abgrenzung von ihm. Das moderne einzelne Individuum, das nur im Verhältnis zu sich selbst und seinen Sorgen steht, verschließt sich der teilhabenden Vergegenwärtigung des Offenen bzw. des Lebens, es bleibt „Zuschauer, immer, überall, dem allen zugewandt und nie hinaus! Uns überfüllts. Wir ordnens. Es zerfällt. Wir ordnens wieder und zerfallen selbst.“15 Der weltbildschaffende Ordnungszwang erweist sich in dieser Sicht als eine zunehmende Exilierung aus der Natur – bis hin zur ziellosen Zerstörung jener kontinuierlichen Realität, die anfangs auch den Menschen einschloss. Anders als das Tier, das „immer bleibt im Schooße, der sie austrug“, ist der Mensch nicht für immer mit der Wärme eines vertrauten Sehens und Fühlens begabt.16 Ist daher die „Gestaltung“, diese Nachahmung der Schöpfung, gleichzeitig das Mittel, mit dem wir uns aus der Schöpfung, ihr „immer zugewendet“, ausschließen?

In dieser Ambivalenz nimmt etwas Konturen an, was Marshall McLuhan als ausgleichende Gerechtigkeit, als „Nemesis der Kreativität“ bezeichnet hat: Kein Erfinder kann im Voraus wissen, wie seine Innovationen die menschlichen Sinne und Erfahrungen affizieren werden. Erst recht konnten Künstler und Techniker der westlichen Welt nicht voraussehen, welche anthropologischen Modifikationen aus der Summe ihrer Beiträge zum Aufbau einer rationalistischen Medienkultur folgen würden. Dennoch haben der Positivismus und der Pragmatismus in den Wissenschaften, die auf die uneingeschränkte Aufklärung, Veränderbarkeit und Beherrschbarkeit von Menschen, Tieren und Pflanzen zielen, die künstlerischen Kräfte nicht eliminieren können. Rilke deutet auf diesen Bereich hin, indem er die Seinsweise des Tieres wie eine Enklave zu hüten versucht. Freilich kann auch diese nicht mehr vom menschlichen Eingriff unberührt sein, denn auch dem Tier „haftet immer an, was uns oft überwältigt, – die Erinnerung, [...]“.17 Tatsächlich hat es den Anschein, als könnten die Tiere in unserer Welt nur noch wahrgenommen werden, wenn sie von einer „Erinnerung“ profitieren, die die Möglichkeit unserer Sympathie und unserer moralischen Zuwendung ihnen gegenüber begünstigt.

Im Verlauf des 20. Jahrhunderts hat eine Animalisierung der Kunst in kontroversen Positionen stattgefunden. Wie kein anderer Maler seiner Zeit hat Franz Marc die Einfühlung als eine Grundgebärde für die Anteilnahme am Animalischen betont. Er erkannte in diesem ein Wärme emanierendes, Nähe spendendes Medium, dessen Funktion und Wirkung im scharfen Gegensatz steht zu dem gegenläufigen zivilisatorischen Prozess zunehmender Versachlichung auf der Objektseite und Erstarrung auf der Subjektseite. In der zweiten Jahrhundert-hälfte war es vor allem Joseph Beuys, der dieser Erkenntnis exemplarisch Gestalt verlieh: Mit seinem erweiterten Kunstbegriff hat er zugleich einem erweiterten Begriff von Animalität und von Teilnahme des Lebendigen am Lebendigen Kontur gegeben. Während für Marc die animalischen und die menschlichen Lebensweisen unterschieden blieben, erkannte Beuys seine Aufgabe in der Schaffung von neuen, dem Stand der Entfremdung gemäßen Übergängen. Seine Aktionen verdeutlichten diesen Gedanken. In einer seiner bekanntesten – der mehrtägigen Begegnung mit einem Kojoten in der New Yorker Galerie René Block, ‚I like America and America likes Me’ (1974) – suchte Beuys die Kommunikation mit einer Tiergattung, die zusammen mit den menschlichen Ureinwohnern Nordamerikas der Expansion der europäischen Eroberer zum Opfer gefallen war.

Eine vollkommen entgegengesetzte Position nimmt der britische Künstler Damien Hirst ein, der mit seinen Tierkadavern international Aufsehen erregt hat. Diese präsentiert er als ästhetische Gebilde in klinisch sauberen, mit Formaldehydlösung gefüllten Schaukästen. Hirst begründet seine Präferenz für Tier-Exponate damit, dass ihr Anblick Gefühle in Individuen auszulösen vermag, die sonst nichts empfinden, wenn sie einander betrachten. Für diesen Zustand affektiver Verkümmerung findet er keine andere Erklärung, als dass er selbst „irgendwie verpfuscht sei“.18 Neu an seinem Verfahren ist nicht die Idee, das Tier als Projektionsfläche für menschliche Befindlichkeiten zu benutzen, sondern seine Option für eine bisher eher tabuisierte ästhetische Strategie: die offene Entscheidung für den schlechten Geschmack. Im Gegensatz zu Hirst versuchen die Langheimer die geheimnisvollen, ebenso offenkundigen wie verborgenen Affinitäten und Wechselbeziehungen zwischen Mensch und Tier zu vergegenwärtigen. Mit ihrer Malaktion treiben sie die Animalisierung der Kunst voran und eröffnen eine andere Form zur Animalität, die abgewandelt bei Elias Canetti ausgesprochen ist: „Man möchte jeden Menschen in seine Tiere auseinandernehmen und sich mit diesen dann gründlich und begütigend ins Einvernehmen setzen.“19 Dies kommt der Vorstellung gleich, die Animalität sei von ihr selbst her als Interanimalität verfasst und nur als solche miterlebend zu verstehen. Statt Mensch und Tier durch fortschreitende Trennung voneinander zu lösen und das Tier zu einer bloßen Ressource herabzusetzen, wie es dem Bewusstsein der individualistisch verfassten Gesellschaft entspricht, zeigen die Langheimer, dass die ontologische Nachbarschaft mit dem Tier auch unter modernen Bedingungen neu gestaltet werden könnte. Für sie wird das Tier zu einem Medium der Erinnerung an eine Seinsweise, die zwar marginalisiert und überdeckt, aber nicht völlig ausgelöscht werden kann. In der Malaktion im Wuppertaler Zoo manifestierte sich eine Bereitschaft zur Gelassenheit angesichts von Kreaturen, die in ihren eigenen Spielräumen des So-Sein-Könnens wahrgenommen werden.