Tatjana Valsang – Über Authentizität, Stil, Form und Inhalt.
Rob de Vrij
Es gibt in Mythologien und Religionen viele Geschichten wie alles angefangen hat, aber die meisten Wissenschaftler haben sich mittlerweile darauf geeinigt, dass es mit dem Urknall begann – also, erst gab es gar nichts und dann ist es auch noch explodiert!
Laut Edmund Burke1, geboren 1729 – also vor fast dreihundert Jahren – ist etwas ähnliches in der Kunst passiert. Nach seinem ersten Buch über Staatsrecht wollte sein Verlag noch mehr von ihm publizieren und Burke veröffentlichte deshalb kurz darauf ein Werk mit dem Titel „Philosophische Untersuchungen zur Schönheit und dem Erhabenen“2. Er hatte dieses Werk zum großen Teil vor seinem 19. Geburtstag verfasst. In diesem Buch erklärt er, dass die Kunst mit einem absoluten Höhepunkt angefangen hat, nämlich der Höhlenmalerei. Für ihn war die prähistorische Malerei pur, unverfälscht, authentisch3 und noch nicht einmal für ein Publikum gemalt, weil sie in sehr schwer zugänglichen Höhlen verborgen ist. Die Publikation schlug hohe Wellen. Selbst Denis Diderot und Immanuel Kant4 nahmen von Burkes Werk Kenntnis.
Man könnte kritisieren, dass die westliche Kunst sich nicht in einer kontinuierlichen Entwicklung von der Prähistorie bis zur Gegenwart befindet. Tatsache ist, dass es Perioden von zehntausenden von Jahren gibt, in denen die westliche Kunst nicht existiert5.
Burke hat im Grunde Recht, die Höhlenmalerei ist großartig, keine Frage. Aber er impliziert, dass die Kunst seitdem an Authentizität eingebüßt habe, was nachvollziehbar ist, wenn man sich mit der damaligen Malerei in England auskennt.
Wir aber sollten Authentizität als einen der wichtigsten Faktoren der kulturellen Tätigkeit6 auffassen, und zwar seit Anfang der Renaissance um 1450 in Nord-Italien. Die Renaissance, was die Wiedergeburt von Idealen im Römischen Reich bedeutet, war die Ablösung vom Mittelalter, das in den Jahren 500 bis 1450 geprägt war von großen Unruhen, Pandemien und Völkerwanderungen.
Dieser Übergang zur Neuzeit gilt als eine Änderung im Denken. Der Mensch im Mittelalter hatte noch ein kosmomorphes Bewusstsein: er sah sich allem ausgeliefert was er nicht deuten konnte. Der moderne Mensch hat ein anthropomorphes Bewusstsein und sieht sich damit im Zentrum aller Geschehnisse. Er ist selbstbewusst. Handel, Kunst, Bildung und Wissenschaft blühen. Künstler betrachten sich nicht länger als Handwerker, sondern signieren stolz ihre Arbeiten. Kirchenfürsten und weltliche Herrscher geben nach wie vor Kunst in Auftrag und bestimmen somit die Inhalte: biblische Themen wie Verkündigung, Himmelfahrt und alles dazwischen. Ansonsten heldenhafte Siege und verherrlichende Porträts, sowie pikante Szenen aus Mythologien und der Bibel. In dieser künstlerischen relativen Unfreiheit haben die Künstler ihre eigene geheime Agenda: sie erstreben Wiedererkennung und Anerkennung7, also Ruhm und Erfolg.
So entsteht ein ziemlicher Spagat: einerseits muss der Künstler Erwartungen erfüllen und zeitgenössisch8 sein um verstanden zu werden, andererseits muss er sich unterscheiden von anderen Anwärtern.
Dies geschieht durch das Entwickeln des eigenen Stils, in erster Linie durch besseres Wahrnehmen und eine erstaunliche Zeichenfähigkeit, zudem eine Beherrschung von Licht, Raum und Farbe9. Darauf entwickelt man eine spezielle Malweise, einen Stil: erkennbar an Vorlieben für bestimmte Farben und Farbkombinationen, Schattierung der Farbe, spezifische Lichtverhältnisse, Handschrift und Gestik. Diese Stilfaktoren sind formal und nicht inhaltlich. Die Bedeutung von Stil im Verhältnis zur Erzählung ist klar. Man sagt „das ist aber ein super Tizian“ und nicht „das ist aber eine super Maria Himmelfahrt“.
Erst als Kirche und Aristokratie Konkurrenz von reichen Bürgereliten10 in den Handelsstätten bekamen, entstand eine größere künstlerische Freiheit in der Themenwahl. Tatsächlich gibt es aber nur eine beschränkte Anzahl von Themen, und die kannten die Griechen auch schon. Deren Götter waren reichlich mit menschlichen Makeln versehen. Shakespeare ist zeitlos durch die psychologisch motivierte Handlung. Und Freud hat das für seine Zeitgenossen erläutert. Eigentlich ist da nicht viel hinzuzufügen, und trotzdem erscheinen immer wieder neue Bücher, Filme, Theaterstücke, Choreographien und Songs. Wie gesagt, nicht weil man inhaltlich etwas Neues zu melden hat, sondern weil man eine neue Art der Darbietung versucht11.
Wenn diese neue Art viele Nachfolger hat, wird die Innovation zur Konvention, was wiederum innovative Leute auf den Plan bringt. Und weil eine Konvention in der Regel verfeinert und perfektioniert wird, sieht man oft eine Rohheit in der Reaktion darauf: Punk, Neue Wilde, Hamlet nackt auf einer kahlen Bühne – gegen den guten Geschmack.
Als Ende des 19. Jahrhunderts die Photographie als neues Medium Fuß gefasst hatte, haben viele bildende Künstler entschieden, die repräsentative Funktion der Malerei zu verlassen und formal authentische Stile zu entwickeln. Hingegen blieb die Kamera viel mehr der sichtbaren Wirklichkeit verbunden. So entstanden zunächst Impressionismus und Symbolismus und danach viele andere -ismen im 20. Jahrhundert.
Dass die menschlichen Themen12 in der bildenden Kunst mehr in den Hintergrund geraten sind, hat der Authentizität eine noch viel bedeutendere Rolle verliehen. Natürlich gibt es, wie überall sonst auch, Imitation und Opportunismus. Aber Werke, die sich durch Originalität und Innovation unterscheiden, haben gute Chancen auf Erfolg.
Tatjana Valsang hat über Jahrzehnte in ihrem Atelier einen ganz eigenen Stil und Ästhetik entwickelt. Sie arbeitet auf relativ großen Leinwänden und fängt an mit einer ausführlichen Planung, die in Notizen und Skizzen festgehalten ist und dann im Malprozess verlässlich vom Geschehen durchkreuzt wird.
Meist dient ihr eine elegante Bewegung als Ausgangspunkt. Danach beginnt ein Ablauf, den man als interaktives Malen bezeichnen könnte. Das Bild vermittelt, was passieren soll und darauf muss sie adäquat reagieren mit Ergänzungen, Änderungen, Korrekturen, neuen Schichten und Übermalungen13. Und ständig muss sie überprüfen, ob der Eingriff den Erwartungen entspricht und ein Schritt vorwärts ist bei der Bildfindung14.
Ihre Kompositionen rufen oft Assoziationen von Mikroben oder Vegetation hervor. Sie sind aber in der Regel keine Repräsentation dessen, sondern abstrakte Spannungsfelder mit einer organischen Formensprache. Die komplexen Arrangements werden oft aus vielen Schichten durchsichtiger Acrylfarbe aufgebaut. Solche Schichten, Lasuren genannt, wirken als Filter: das Licht wird durch die Untermalung reflektiert und tritt wieder aus. Bei deckender Farbe reflektiert das Licht an der Oberfläche. Dieser Unterschied ist auch im Alltag gut zu beobachten: wenn z.B. Sonnenlichtdurch Baumblätter scheint, hat das filtrierte Licht eine andere Intensität, als wenn es auf die Blätter scheint.
Weil Tatjana Valsang auch Farben gießt und fließen lässt, was nicht wirklich zu kontrollieren ist, und weil Missgeschicke passieren, muss sie offen bleiben und improvisieren können, wenn das Unerwartete geschieht. Ohne diese Eigenschaften und ihren Schatz an Erfahrung, den sie über Jahre hinweg errungen hat, würden die Bilder niemals so gekonnt frisch sein und nie so eigen. Tatjana Valsangs Bilder haben eine große dynamische Wirkung. Es sind Kompositionen, von denen man sagen kann „da passiert etwas“, obwohl man weiß, dass die Bilder statisch sind. Es ist ähnlich wie in der Musik: wenn auf der Bühne keine Synergie ist, springt auch kein Funke über.
Natürlich ist es wunderbar, wenn es einen einfach erwischt, klar, wie Liebe auf den ersten Blick. Aber gute Kunsterfahrung braucht Anteilnahme. So könnte man sich überlegen: „ist das ehrlich?“, „ist es selbstverständlich?“ und „zeigt das Bild Entschiedenheit?“ – drei wichtige Kriterien bei der Beurteilung. Oder auch: „hat das Bild ein schönes Format?“ Nicht, dass das am Format selber liegt sondern daran, dass alles auf der Bildfläche stimmt. Nur dann ist es ein schönes Format.
Aber, was macht die Bedeutung eines Bildes eigentlich aus? Es ist das Resultat einer Interaktion zwischen objektiven Eigenschaften vom Objekt (für jeden gleich) und der Subjektivität vom Betrachter (wodurch die Interaktion bei Anderen anders verläuft). Man schätzt also die Ideen und Entscheidungen, die eine Rolle gespielt haben im Arbeitsprozess. 15 Wenn man bedenkt, dass das Bild ein Medium ist, findet die eigentliche Interaktion zwischen Betrachter und einem kreativen Menschen statt – auf Grund von Gleichgesinntheit, auch wenn man sich dessen nicht so bewusst ist. So gesehen, ist Kunst zu betrachten eine Form von Gedankenlesen.
Das habe ich getan, Tatjana, eine tiefe Verneigung, Chapeau!16
1 Edmund Burke (1729-1797) kam aus Dublin und wurde von seinem Vater nach London geschickt, um Jura zu studieren. Aber im Herzen war er ein Schriftsteller. Deshalb schmiss er nach einem Jahr das Studium. Sein Vater strich darauf hin seinen Unterhalt. Deswegen publizierte Edmund Burke in 1757 ein (angeblich?) satirisches Werk zum Staatsrecht.
2 “A philosophical Enquiry into the Origin of our Ideas of the Sublime and the Beautiful” ed. J. Dodsley, London, 1757
3 Authentisch bedeutet originell, ursprünglich, in seiner Art einmalig.
4 Kant veröffentlichte sogar eine Kritik über Burkes Auffassungen und Thesen, die darin bestand, dass Burke eine Definition vom Sublimen benutzt, in dem das Sublime überwältigend ist und als Ehrfurcht einflößend beschrieben wird. Stattdessen will Kant das Sublime als das Erhabene aufgefasst haben. Warum sollte eine Symphonie oder ein Sternenhimmel beängstigend sein?
5 Manche, sogar führende Kunstgeschichtsbücher setzen diesen angeblich roten Faden auch voraus.
6 Und nicht nur bei der Produktion. Authentizität spielt auch bei Wertschätzungen eine enorme Rolle. Jemand kauft ein Bild für 65 Dollar auf einem Flohmarkt und es stellt sich heraus es ist ein Rembrandt. Oder andersherum, jemand kauft ein teureres Aquarell von Chagall und es wird auf einmal als gefälscht eingestuft. Max Liebermann sagte schon, dass es Kunsthistorikern zu verdanken ist, dass seine nicht so gelungenen Bilder später als Fälschungen eingestuft wurden.
7 In der englischen Sprache enthält das Wort ‘Recognition’ beide Bedeutungen: to be recognizable and to be recognized.
8 In diesem Licht ist der Begriff ‘Contemporary Art’ sehr unglücklich gewählt, da alle Kunst mal zeitgenössisch war.
9 Licht, Raum und Farbe sind die Basisbedingungen der sichtbaren Welt und somit der Malerei, Photographie, Architektur, Städteplanung und des Films – aber auch der Gärtnerei, Wohnungseinrichtung und sogar der Sorgfalt, mit der man sich kleidet oder einen Tisch deckt.
10 Dies geschah in den Niederlanden im 17. Jahrhundert und in den restlichen westeuropäischen Ländern im 19. Jahrhundert, nach der industriellen Revolution.
11 Steven Spielberg brachte in 1982 den Film ET heraus, einen der größten Filmhits. Der Film ist die neue Verpackung eines alten Inhalts: dem Neuen Testament. Spielberg hält sich exakt an die Erzählstruktur seiner Quelle. Damit bedient er sich des kollektiven Unterbewusstseins in großen Teilen der Welt.
ET = The Extra-Terrestrial = der Außerirdische = Jesus.
12 Die menschlichen Themen in der Kunst und Kultur sind eine Handvoll von Polaritäten, wie z.B. Mann–Frau, Jung–Alt, Gut–Böse, Liebe–Hass, Treue–Verrat, Leben–Tod, usw., mit vielen Ableitungen davon, und den einhergehenden Emotionen.
13 Gustav Mahler hat mal erklärt, dass das meiste wegkomponiert sei. Das lässt sich bei der Malerei nicht so leicht machen. Georg Baselitz sagte mal in einem Interview: „Malerei ist einfach, wenn man keine Fehler macht“. Aber wenn es immer ins Schwarze trifft, heißt das nur, dass man zu nah an der Zielscheibe steht.
14 Anni Albers sagte zu ihren Studenten im Black Mountain College: „Kreativ sein ist nicht so sehr der Wunsch, etwas zu tun als zu hören auf das, was gemacht werden will“ und – auch ganz schön – „man kann von irgendwo zu irgendwo gehen“.
15 Diese Interaktion gilt für alle von Menschen geschaffenen Produkte mit einer kulturellen Bedeutung. Kunst, Design, Foto, Film, Musik, Architektur usw., zusammengefasst unter dem Begriff Artefakte, im Gegensatz zu Naturphänomenen. Es fing schon an mit dem Unterschied zwischen einem Faustkeil und einem Stein.
16 “The beauty one can find in art is one of the pitifully few real and lasting products of human endeavor” J. Paul Getty
Malerei - nicht mehr und nicht weniger
10.09. - 06.11.2020
Peter Schmersal
Die 140. Ausstellung der Serie "Kunst in der Sparkasse" in der
Sparkassenzentrale am Islandufer
Auszug aus dem Katalog zur Ausstellung:
Einige Gedanken über das Malen
Text von Peter Schmersal
Ich freue mich über die Einladung von Gunther Wölfges und Peter Klassen, eine kleine Auswahl meiner Bilder in der Stadtsparkasse Wuppertal zu zeigen, die dazu noch mit diesem Katalog bereichert wird. Herzlichen Dank dafür.
Es stellt sich wie immer die Frage, welche Bilder das sein können, welche den interessantesten Einblick in den momentanen Stand der Arbeit bieten. Natürlich sind die aus der letzten Zeit die Favoriten, deshalb, weil ihre Fontanellen noch nicht geschlossen sind; nah wie sie mir sind, besetzen sie mein Denken und sind das direkte Entrée in den Humus, aus dem die noch nicht gemalten entstehen, die, die noch gar nicht wissen, ob sie je da sein werden, nicht bloß als Ahnung oder Vorstellung, sondern als Substanz, als Subjekt/Objekt, als Katalysator und Multiplikator, kurz: die wirklich sind. Aber auch einige Abgehangene, mit dem Haut-Goût der Unabhängigkeit, sind dabei, sozusagen als Sockel für die Interaktion und den Dialog untereinander und mit uns. Denken ist Plastik, sagt Beuys, Zeichnen ist Denken, sagt Degas.
Übersetzten wir nicht Denken mit Handeln in eine Gegenstandswirklichkeit, hätten wir keinen Bezugspunkt, keine Welt erzeugende Welt, kein Arkadien und keine Hölle, sondern nur eine Flamme, die sich selbst verzehrt.
Wir können uns zwar denken, doch nicht bilden. Uns bleibt das Abbild, das wir bilden, sinnbilden, tatsächlich.
Da sitzt eine Person. Ich will sie malen, porträtieren. Jetzt, wo sie da ist, fegt sie mein inneres Bild-Porträt von ihr weg.
Den kompletten Text finden Sie im Ausstellungskatalog ab Seite 4.